Vom Fliehen und Ankommen

Titelseite: Vom Fliehen und Ankommen
Ausgabe 2022/03

Inhalt

Die alte Gewalt überwinden

Von Gerd-Matthias Hoeffchen


  • Foto: IMAGO/i Images
  • Foto: Steffen Giersch

Krieg und Frieden: In der Natur herrscht ein ständiger Kampf ums Dasein. Auch der Mensch gehört zur Natur – einerseits. Doch er kann Kampf und Krieg hinter sich lassen.

Ohne Krieg hätte es mich nicht gegeben. Als mein Vater auf der Flucht aus Breslau auf ein blutjunges Mädchen traf, fühlten sich die beiden schicksalhaft zueinander hingezogen. Das Mädchen suchte instinktiv Geborgenheit bei dem älteren Mann. Er, der bereits eine komplette Familiengeschichte hinter sich hatte, fand in der Rolle des Beschützers eine neue Bestimmung. 31 Jahre Altersunterschied, Tod und enthemmte Gewalt als Reisebegleiter – wohl nur der Wahnsinn jener Tage kann erklären, wie die beiden auf die Idee kommen konnten, unter solchen Umständen eine Familie zu gründen.
Der Krieg brennt nieder. Er walzt platt. Zerstört Völker und Länder. Aber er ordnet die Dinge auch neu. Wie ein Rodungsbrand, der im Wald Platz schafft für neues, frisches Gewächs. So ungefähr mag der griechische Philosoph Heraklit gedacht haben, als er vor 2500 Jahren den Satz erdachte, der seitdem wie ein Dorn im Fleisch aller schmerzt, die über den Frieden nachdenken: Der Krieg ist der Vater aller Dinge.
Krieg ist eine Katastrophe. Und doch kann sich die Geschichtswissenschaft der Beobachtung nicht entziehen, dass große Veränderungen meist durch Kriege und Revolten eingeleitet wurden. Das ist eine zynische Sicht, darunter mag man leiden. So wie der große Denker Immanuel Kant, der schon im 18. Jahrhundert den Krieg als »Zerstörer alles Guten« beklagte, gleichzeitig aber eingestand, dass diese Zerstörung notwendig sein könne, um ein »Fortschreiten zum Besseren« in Gang zu setzen. Gleichberechtigung, Ende von Unterdrückung, Demokratie: Meist mussten sie den Herrschenden mit Gewalt abgerungen werden. Krieg ist »der gewaltsame Lehrer«, wie es der Historiker Dieter Langewiesche in seinem gleichnamigen Buch darstellt. Eine hochumstrittene Sichtweise. Denn sie verhöhnt scheinbar alles, wodurch sich menschliche Zivilisation nach zwei Weltkriegen eigentlich definieren will: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.
Warum gibt es Krieg? Am Anfang mag ein Mensch dem anderen mit einem Stein den ­Schädel eingeschlagen haben. Vielleicht hat er ihm (oder ihr) die Kehle durchgebissen; so, wie es manche Tierarten tun. Jedenfalls steckt die Gewalt gegen den anderen tief im Menschen drin. Die Bibel hält das in ihrer Urgeschichte fest. Der Ackerbauer Kain erschlägt seinen Bruder, den Hirten Abel; ein Kampf um Lebensgrund­lagen und Anerkennung. Gewalt ist dem Menschen mit in die DNA gegeben, in sein genetisches Baumuster. Denn er muss leben. Und das heißt: essen.
Als der Mensch zum Fleischfresser wurde, musste er das Töten lernen. So, wie viele andere Kreaturen das auch müssen. Eigenes Leben erhalten heißt: anderes Leben auflösen, in sich aufnehmen. Damit die Kreatur das auch wirklich tut, mit Nachdruck und vielleicht auch mit Freude, hat sie einen ­Mechanismus der Belohnung ein­gepflanzt bekommen: das angenehme, zutiefst zufriedenstellende Gefühl des Sattseins, des Beutemachens.
Dieses Töten um zu leben ist zwar heute in vielen Gesellschaften ausgelagert in spezielle Arbeitsbereiche. Die wenigsten Menschen sehen noch, wie ihr Fleisch auf den Teller kommt. Und doch ist er in aller Regel noch da, dieser uralte Instinkt der Jagd; in welcher Spielart auch immer. Jagen. Töten. Fressen. Das, was ich zum Überleben brauche, nehme ich mir. Dieses Programm ist grundlegender Teil der Schöpfung. Auf dieser Stufe spielt die Frage nach Richtig oder Falsch keine Rolle. Und damit auch nicht nach Recht, Unrecht; Moral oder Gewissen. Töten, um mir das zu nehmen, was ich brauche – das ist Natur. Und das tut längst nicht nur das Individuum, also die einzelne Kreatur. Es jagen und töten Gruppen, Rudel, Familien. Und von Zeit zu Zeit fallen sie dann auch übereinander her. Die Sippen, Stämme, Reiche und Nationen. Krieg ist kollektiv organisierte Fortsetzung des Verlangens: Ich nehme mir, was mir aus meiner Sicht zusteht zum Überleben.
Nun hat der Mensch im Laufe der Zeit eine Sonderrolle unter den Geschöpfen entwickelt. Erstens: Er kann unglaublich wirksame Mittel und Strategien ersinnen, um andere zu zerstören. Am Anfang stand vielleicht der Stein. Jetzt gibt es Nervengas und Atombomben. Aber zweitens hat der Mensch ein Gewissen entwickelt. Verstand und Vernunft versetzen ihn in die Lage, über sein Handeln nachzudenken. Die religiöse Sicht mag das Gewissen als göttlichen Funken im Menschen beschreiben. Jedenfalls: Der Mensch ist in der Lage, darüber nachzudenken, ob das, was er tut, auch wirklich angemessen ist. Auch und gerade beim Töten. Und so bildet er plötzlich die Kategorien »richtig« und »falsch«, daraus folgend »gut« und »böse«. Die Menschheit, die Keule, Schießpulver und Atombombe erfindet, um die Gewalt über alle Maßen zu verstärken, entwickelt auf der anderen Seite Vorstellungen von Moral und Ethik – und damit die Chance, diese Gewalt einzudämmen. Der Mensch ist zu beidem fähig, und zwar in außerordentlichem Maße: zu extremer Schonungslosigkeit und Grausamkeit. Aber er ist auch zu großem Mitgefühl fähig, bis hin zur selbstlosen Aufopferung. Mitleid, Nächstenliebe, festgehalten in Lehrgeschichten wie die vom barmherzigen Samariter: Auch das ist der Mensch. Welche Seite setzt sich durch?
Diese Zwiespältigkeit ist eindrucksvoll in einem Bild festgehalten. Angeblich geht es auf eine Erzählung nordamerikanischer Ureinwohner zurück. Sie sagt: In der Brust des Menschen wohnen zwei Wölfe. Der eine bringt Dunkelheit, Misstrauen, Angst und Gewalt. Der andere bringt Licht, Hoffnung und Liebe. Die entscheidende Frage ist: Welchen von beiden willst du füttern?
Gewalt und Krieg sind kein natur- oder gottgegebenes Schicksal, sagt Yuval Noah Harari. Sie können überwunden werden. Der gefeierte Star der gegenwärtigen Intellektuellen-Szene, der an der Hebräischen Universität Jerusalem Geschichtswissenschaft lehrt, widerspricht energisch jener Lehrmeinung, die den Krieg als unvermeidbar festschreibt. Zwar sieht auch Harari, dass der ganz überwiegende Teil der Menschheitsgeschichte durch Kriege geprägt war. Harari nennt es »das Gesetz des Dschungels«. Aber dieses könne der Mensch überwinden, sagt Harari. Der Beweis: Europa. Der Kontinent, der über Jahrhunderte von schrecklichsten Kriegen geprägt wurde, habe es nach 1945 geschafft, zu Frieden und Verständigung zu finden, so Harari. Natürlich sieht auch er, wie zerbrechlich die Lage ist, gerade jetzt im Moment. Dennoch sei aus seiner Sicht völlig klar: Die Aufgabe der menschlichen Zivilisation sei, Frieden zu schaffen; das Gesetz des Dschungels endgültig hinter sich zu lassen. Wie kann es dazu kommen? Ein paar Stichworte: Die Menschheit muss sich verbindlich auf gewaltlose Wege der Konflikt­bewältigung verpflichten. Sie muss versuchen, die Konfliktursachen zurückzufahren. Ausbeutung, Spaltung in Arm und Reich, Zugang zu Lebensgrundlagen, zählen dazu. Teilhabe, Interessenausgleiche. Toleranz gegenüber »dem Anderen«, auch bei unterschiedlichen Vorstellungen von Werten, Kultur, Weltsicht und Religion. Statt der eigenen Gruppe, der eigenen Nation muss die Weltgemeinschaft ins Bewusstsein rücken. Denn Krieg funktioniert immer nach dem Motto: WIR gegen DIE.
Was will der Mensch sein? Ein Geschöpf, das – vielleicht hemmungslos, vielleicht mit Gewissensbissen – dem uralten Programm folgt: »Nimm dir, was du zu brauchen meinst; und das auch mit Gewalt?« Oder will er der zivilisierte Homo sapiens sein, der »weise Mensch«, der durch die Kraft von Verstand, Vernunft, Humanität und auch Religion erkennt: Gewalt und Krieg sind Teil seiner unerlösten Natur. Seine Aufgabe, und die der gesamten Menschheit, ist es, bei dem urtümlichen Trieb nicht stehenzubleiben. Sondern etwas Besseres daraus zu machen. Alles, was es dazu braucht, ist bereits da: Erkenntnis. Einsicht. Anleitungen und Wege. Auch und gerade in den Religionen. Zwei Wölfe trägt der Mensch in seiner Brust. Es kommt darauf an, welchen er nährt...

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