Schmerz

Titelseite: Schmerz
Ausgabe 2021/01

Inhalt

Literatur



»Es gibt keinen Tod«

Dieses bisher leider noch wenig bekannte Lebenszeugnis einer jungen Frau in der NS-Zeit ist gleichermaßen erschütternd wie berührend: Cato Bontjes van Beek (1920 – 1943) aus einem kleinen Dorf im Norden Deutschlands wurde in der Zeit des Hitlerfaschismus erwachsen, litt zunehmend an den ihr bekannt werdenden Gräueln im Krieg und im Umgang mit den Juden, engagierte sich in einer Berliner Widerstandsgruppe, wurde verraten, inhaftiert und 1943 im Alter von nur 22 Jahren zum Tode verurteilt und hingerichtet. Nun hat der Autor Hermann Vinke dieses Lebensschicksal, das erstaunliche Parallelen zu Sophie Scholl aufweist, akribisch recherchiert und in dem Buch »Leben will ich, leben, leben« veröffentlicht. Hauptbestandteil sind zahlreiche Briefe van Beeks, die erhalten geblieben sind und die eine beeindruckende Tiefe und Weisheit aufweisen. Es ist einerseits ein Buch gegen das Vergessen der monströsen Barbarei des Dritten Reichs. Andererseits aber auch ein zeitloses Zeugnis, wie richtig und wahrhaftig zu leben wäre – gerade auch im Angesicht von Leid und Schicksalsprüfungen. Aufgewachsen in einer Künstlerfamilie im norddeutschen Dorf Fischerhude – in lebendigen Beziehungen zu ihrer Schwester Mietje und ihrem Bruder Tim, zu Cousins und befreundeten Künstlerinnen und Künstlern – entdeckte Cato früh den Zauber der Natur, der Kunst, des Denkens und Austauschens. Sie liebte die Moor- und Heidelandschaften ihrer Heimat – besonders, wenn im Herbst die Wiesen überschwemmt waren und die Krähen umherschwärmten –, las viele Bücher, begeisterte sich für die Fliegerei und absolvierte ein Au-pair-Jahr in England, wo sie die neue Sprache und Kultur aufsog. Als junge Frau zog sie in die vitale Weltstadt Berlin – zu ihrem Vater Jan, bei dem sie in der Keramikwerkstatt arbeitete. Doch die Schatten der Zeit fielen auf ihr Leben. Sie schrieb von »dieser Zeit, die voller Hass ist«. Und im November 1941 an ihre Mutter: »Ich höre jetzt so furchtbare Dinge über das, was draußen in der Welt geschieht – nicht nur draußen weit fort, dass die Lust am Weiterleben mir manchmal vergeht.« Zur Widerstandsgruppe »Rote Kapelle« stieß sie 1941. Zusammen mit ihrem Freund Heinz Strelow beteiligte sie sich an der Herstellung von Flugblättern, die den Krieg und NS-Terror anprangerten. Am 20. September 1942 wurde sie verhaftet. In der ersten Zeit im Gefängnis leidet sie vor allem unter dem Entzug von Büchern. An ihre Mutter schreibt sie: »Ich gehe meistens auf und ab und bin froh, dass ich 16 lange Gedichte auswendig weiß, die ich jeden Tag einmal spreche.« Das Reichskriegsgericht verureilte sie schließlich im Januar 1943 wegen »Beihilfe zur Vorbereitung des Hochverrats« zum Tode. Danach hoffte sie noch auf ein Wunder – zahlreiche Gnadengesuche und eine weitere Vernehmung folgten. Kurz nach dem Urteilsspruch schrieb sie davon, jede andere Strafe akzeptieren und tragen zu wollen – »Nur leben will ich, leben, leben!« Doch das sollte ihr nicht vergönnt sein. Am 5. August wurde sie in Berlin-Plötzensee enthauptet. Bis dahin hat sie allerdings – meist auf illegalem Weg – zahlreiche Briefe, insbesondere an ihre Mutter geschrieben. Darin bezeugt sie ein nahezu unglaubliches Einverständnis mit allem, was ist und kommt, ein Verbundensein mit einer Kraft, die Leben und Tod übersteigt und in ihr eine große Gefasstheit und tiefe Liebe freigesetzt hat. An ihre Mutter schreibt sie: »Meine liebe Mama, wie kann ich dir nur sagen, dass ich so ruhig bin wie selten zuvor? In mir ist nur Liebe zu Euch und zu allen übrigen Menschen. Ich bin völlig frei von Groll oder gar Hass – es ist so, als hätte alles ein mildes Gesicht.« Sogar diesen Gedanken kann sie ihrer Mutter mitteilen: »Es gibt keinen Tod, das weiß ich ganz genau. Ich werde mit Euch sein, in und um Euch, sollten meine Hoffnungen vergebens sein und ich müsste doch sterben.« Und später schreibt sie: »Es gibt keine räumliche Trennung und was ist Zeit? Wir werden einmal alle wieder zusammensein, bei Großvater und Großmutter.« Auch über die Quellen ihrer tiefen Zuversicht gibt sie Auskunft. Es ist vor allem das »systematische Lesen« der vier Evangelien (»Ich bin sehr froh, dass ich das Neue Testament hier habe.«) und das Hören der Matthäus- und Johannes-Passion Bachs. Einem Freund erteilt sie aus dem Gefängnis diesen Ratschlag: »Suche das Schöne in der Kunst und in jedem Menschen und lerne, mit dem Herzen zu denken.« Und ihrer Schwester schreibt sie: »Du musst im Leben all das liegen lassen, was dich geistig nicht weiter bringt. Es gibt sehr vieles, das unnütz ist, leider weiß man es erst etwas zu spät.« Noch vor der Inhaftierung hatte sie in einem Brief einmal geklagt: »Wir leben alle viel zu gleichgültig dem Leben gegenüber, diesem traurigen Leben.« Dieses erschütternde Buch lenkt den Blick auf das Wesentliche des Lebens – und sichert das Zeugnis einer der großen Frauen des 20. Jahrhunderts...

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