Im Kreislauf des Lebens

Titelseite: Im Kreislauf des Lebens
Ausgabe 2014/03

Inhalt

Die Reise zum Mittelpunkt des Menschlichen

Das Hygiene-Museum in Dresden zeigt ein Abenteuer, zu dem auch das Leben und Sterben gehört.

Von Nadja Laske


  • Wie groß ist ein Embryo im Alter von drei Monaten?Foto: Steffen Giersch
  • Wie groß ist ein Embryo im Alter von drei Monaten?Foto: Steffen Giersch
  • Die Erfindung der Eisernen Lunge ermöglichte die künstliche Beatmung.Foto: Steffen Giersch
  • Leibesfrucht im 7. Monat. Wachs, Lehrmittel DHMD, 1950–1970Foto: Steffen Giersch
  • Die Eizelle. So groß wie der Punkt am Ende des Satzes. Ein Vergleich, mit dem Florian Renschetwas anfangen kann. Seine Lehrerin hat gefragt, wer die Dimension des Ursprungs menschlichen Lebens denn einschätzen könne. Dabei steht sie vor einem riesigen Modell im Deutschen Hygiene-Museum. »Leben und Sterben« heißt der Teil der Dauerausstellung »Abenteuer Mensch«, die dort seit zehn Jahren zu sehen ist. Manche Neuerung hat sie derweil erlebt, die meisten Exponate aber wirken ebenso zeitlos wie die Fragen im Fokus der Schau. Davon sollen die jungen Leute, die in die Ausstellung kommen, möglichst viele sammeln. Fragen, die sie mit nach Hause nehmen, die sie noch lange bewegen, über die sich mit anderen austauschen lässt. Wann beginnt Leben? Wann ist es vorbei? Dass eine Eizelle ebenso groß ist wie ein Ende – dieser Gedanke wird Florian vielleicht noch eine gute Weile begleiten. Er ist einer von rund zwanzig Schülern der Krankenpflegeschule Prüm in der Eifel. Mehr als 600 Kilometer weit ist die Klasse gereist, um Dresden kennenzulernen. Das Ziel ihrer Abschlussklassenfahrt haben sich die jungen Frauen und Männer selbst ausgesucht. Durch die Stadt lassen sie sich führen, und das Elbsandsteingebirge steht auf dem Programm. Doch auch Besuche in der ehemaligen Stasi-Zentrale, der Gedenkstätte Bautzner Straße und im Hygiene-Museum gehören dazu.Leben und Sterben – für die meisten der angehenden Krankenpfleger werden diese beiden Pole zum beruflichen Alltag gehören. Gesundheits- und Krankenpfleger heißt die Berufsausbildung  entsprechend exakt, die Florian Rensch bald abschließen wird. Dass er es mit schwerkranken und sterbenden Menschen zu tun bekommt, dieser Vorstellung ist der 21-Jährige mit großem Respekt begegnet. »Anfangs habe ich gefürchtet, dass ich Probleme damit haben würde, auch Sterbende zu betreuen. Aber das war unnötig.« Nach dem Abschluss der Realschule absolvierte er ein Freiwilliges Soziales Jahr im Krankenhaus. »Ich habe dabei schnell gemerkt, dass ich keine Berührungsängste habe und diesen Beruf sicherlich gut kann«, sagt er. Damit war die Ausbildungsentscheidung gefallen. Sogenannte Helferberufe sind Berufung, dies ist Florian Rensch bewusst. Auch, dass er als Mann in diesem Umfeld eine Rarität ist. Im Hygiene-Museum ragt der hoch gewachsene junge Mann aus der Gruppe heraus, die sich vor Vitrinen und Schautafeln drängt. Ausschließlich Mitschülerinnen umgeben ihn. An Modellen zur Physis des Mutterwerdens sind sie vorbeigekommen. Die Exponate stammen zumindest aus Mutters Zeiten, doch sie erfüllen ihren Zweck noch immer gut. Die menschliche Zelle im XXL-Format haben sich die Gäste aus Prüm angesehen, darüber gestaunt, wie groß ein Embryo im dritten Schwangerschaftsmonat bereits ist – so richtig mit Gesicht, Herz und kleinen Händen. Die meisten haben sich verschätzt und ihn sich viel kleiner vorgestellt. Viel unbedeutender. Ein paar Schritte weiter durchschauen die Schüler die berühmte gläserne Frau. Zwei dieser lebensgroßen Kunststoffkörper beherbergt das Hygiene-Museum. In einer speziellen Vitrine steht das Ur-Modell, die erste gläserne Frau, die Mitte der 1930er-Jahre hergestellt wurde und ihre Nachfolgerinnen zum Dresdner Exportschlager machte. Empfängnis, Geburt, Wachstum und Krankheit durchwandern die Besucher und gelangen zum Verfall. Da wird es unruhig auf halber Höhe rechts. Die jungen Damen sind an einer Teststrecke angekommen, die sie schlagartig altern lässt: Anhand einfacher Geräte können sich die Besucher in die körperlichen Gebrechen hochbetagter Menschen hineinfühlen. Beispielsweise indem sie sich eine Art Taucherbrille aufsetzen. Der Blick ist arg eingeschränkt, er vernebelt die Welt. Wie durch Watte hört es sich an, wenn eine Art Gehörstop-Apparatur über den Ohren klemmt. Nur direkt in die Ohrmuschel gesprochene Wörter sind halbwegs verständlich. Die restliche Geräuschkulisse verschlucken die trichterförmigen Anti-Kopfhörer beinahe ganz. Einige junge Frauen haben sich für eine ungewöhnliche Anprobe auf Stühlen niedergelassen und schnallen sich Bürsten-Schuhe über die Ballerinas. Es fällt ihnen schon schwer genug, sich damit zu erheben, allzu unsicher ist ihr Tritt. Einige Meter auf solch wackeligen Sohlen zu gehen jedoch ist eine noch viel größere Herausforderung. Geheuer ist ihnen das Experiment nicht, und sie schlüpfen schnell wieder heraus. Festen Boden unter den Füßen haben sie nun zwar, dafür aber eine unruhige Hand. Wie es sich anfühlt, Parkinson zu haben, das erfahren die Besucher mithilfe eines Handschuhs, der das typische Zittern in verschiedenen Stärken nachahmt. Hoch- konzentriert sitzt auch Florian Rensch mit einem Stift zwischen den versteiften Fingern über ein Blatt Papier gebeugt und versucht, halbwegs leserliche Buchstaben zu schreiben. Unterdessen haben sich seine Mitschülerinnen in gebeugter Haltung zu einer Runde durch den Ausstellungsraum aufgemacht. In eine nach vorn gebogene Körperhaltung zwingt sie die sogenannte Kyphose-Leiter. Kyphose bedeutet wörtlich »Buckelung« und meint eine krankhafte Verkrümmung der Wirbelsäule, die vor allem alte Menschen belastet. Diese Alters-Modelle wurden einst für die Ausbildung in medizinischen und pflegerischen Berufen hergestellt. Mit Gelächter ist das Hantieren mit ihnen verbunden. Viel mehr aber sorgen sie für Aha-Effekte und Betroffenheit: So geht es Menschen, die in ihrem Alltag schwer gehandicapt sind. Ängstigen mag die Aussicht, selbst so unbeweglich zu werden. Unvorstellbar jedoch ist den jungen Leuten ein Leben in der »Eisernen Lunge«. Auch die findet sich in der Ausstellung »Leben und Sterben«. Es ist eines von wenigen erhaltenen Exemplaren, die noch in deutschen Museen zu sehen sind: ein grünlich lackiertes Monstrum, dem Kranke einst ihr Überleben verdankten. Für die Behandlung lungenkranker Patienten 1920 von dem US-amerikanischen Ingenieur Philip Drinker erfunden, blieb es bis in die 1970er-Jahre die einzige Möglichkeit, Menschen dauerhaft maschinell zu beatmen. Die meisten brauchten das Gerät nur vorübergehend, einige jedoch verbrachten fast ihr ganzes Leben darin – 60 und mehr Jahre liegend in einem eisernen Zylinder, in dessen Innerem Unter- und Überdruck Sauerstoff durch Mund und Nase pumpte. Angesichts der »Eisernen Lunge« tun sich elementare Fragen auf: Welches Leben ist wert, gelebt zu werden? Wer darf darüber entscheiden? Ab wann ist Leben zu schützen und wie weicht es wirklich aus uns? Begleitend zur Ausstellung bieten Museumspädagogen insgesamt sechs verschiedene Projekte an. Sie richten sich an Schülerinnen und Schüler von Ober- und Realschulen sowie Gymnasien. In Workshops beschäftigen sich die Jugendlichen in kleinen Gruppen mit großen Themen. Unter der Überschrift »Wie wollen wir leben?« versetzen sie sich in die Lage von Ethikern, hinterfragen die pränatale Diagnostik und das Leben mit Behinderung. Die Schüler nähern sich der Frage Sterbehilfe ja oder nein und versuchen die Tragweite künstlicher Fortpflanzung zu ermessen. Schönheit und der Drang nach Perfektion sowie der Umgang mit der Selbst­bestimmung stehen ebenso im Fokus. Es geht um Erfolg und Misserfolg, Rechte und Pflichten, Verantwortung und Moral. »Wir wollen erreichen, dass die Jugendlichen lernen, in Grauzonen zu denken und neue Sichtweisen zuzulassen«, sagt Pia Ritter die Kuratorin der Dauerausstellung. Rund dreitausend Schülerinnen und Schüler erreicht das Museum im Jahr mit seinen sogenannten »Ethischen Debatten«. Ein Viertel davon kommt aus Sachsen. Das Gros von weiter her. So wie Florian Rensch und seine Mitschüler aus Prüm. Die sind derweil ganz still geworden. Im Halbkreis stehen sie vor einer Fotogalerie. Porträts von Verstorbenen sind da zu sehen. Weich gebettet. Ewig ruhend. Welchen Eindruck ihr Anblick auf sie mache, diese Frage steht sekundenlang im Raum. Nur zögerlich kommen Reaktionen: Friedlich wirken die Toten, da sind sich alle einig. Und wer würde ein solches Foto von einem nahestehenden Menschen bei sich daheim aufhängen? Nun lassen die Antworten noch länger auf sich warten. Unsicher und ratlos schauen sich die jungen Leute an. Dann zögerliches Kopfschütteln. Nein, das möchte niemand – obwohl der Tod doch keine Fratze zeigt. Obwohl allen Gesichtern anzusehen ist, dass das Gehen keine Qual war. »Fotos hängt man sich doch zu Hause an die Wand, wenn sie das volle Leben zeigen, etwas Positives, lachende Kinder vielleicht«, sagt ein junges Mädchen. Auch Florian Rensch möchte sich nicht mit dem Tod als Porträt privat umgeben. Er wendet sich lieber dem letzten Objekt im Raum »Leben und Sterben« zu: der Aufzeichnung einer Wärmebildkamera. Sie zeigt schemenhaft einen menschlichen Körper. Den Körper eines toten Menschen, aus dem die Wärme weicht. Rote, grüne, gelbe Felder zeigen an, in welcher Zeit die Temperatur wie weit absinkt bis zum Erkalten. Lange stehen die Besucher vor dem Bildschirm, lassen wieder und wieder die Stunden vergehen und die Farbe der Felder wechseln. Rund ums Herz flackern sie am längs­ten auf. Dann bleibt die Silhouette dunkel. Reine Physik, ein Energieaustausch einerseits. Und andererseits der visualisierte Wunsch vieler Menschen, die sich vorstellen, wie die Seele ihrer gestorbenen Lieben und später ihre eigene den Körper verlässt. Von jedem bleibt etwas zurück in dieser Welt. Joule und Geist. Über den Punkt am Satzende hinaus. Foto: Steffen Giersch
  • Altern in wenigen Sekunden: präparierte Brillen simulieren die Sicht aus betagten Augen. Sie lassen nachempfinden, wie sich alte Menschen mit ihren schwindenden Sinnen fühlen.Foto: Steffen Giersch
  • Der Gläserne Mensch war zum Zeitpunkt seiner Entwicklung 1927 eine technische und wissenschaftliche Sensation: Blutbahnen, Nerven und Organe des menschlichen Körpers wurden sichtbar, ohne dass er aufgeschnitten werden musste.Foto: Steffen Giersch
  • GesichterwandFoto: Steffen Giersch
  • ScheibentorsoFoto: Steffen Giersch
  • Nadja Laske (Jahrgang 1973), stammt aus Chemnitz. Die studierte Germanistin lebt in Dresden und schreibt vor allem für die Sächsische Zeitung. Foto: Steffen Giersch
  • Foto: Steffen Giersch

Die Eizelle. So groß wie der Punkt am Ende des Satzes. Ein Vergleich, mit dem Florian Rensch etwas anfangen kann. Seine Lehrerin hat gefragt, wer die Dimension des Ursprungs menschlichen Lebens denn einschätzen könne. Dabei steht sie vor einem riesigen Modell im Deutschen Hygiene-Museum. »Leben und Sterben« heißt der Teil der Dauerausstellung »Abenteuer Mensch«, die dort seit zehn Jahren zu sehen ist. Manche Neuerung hat sie derweil erlebt, die meisten Exponate aber wirken ebenso zeitlos wie die Fragen im Fokus der Schau. Davon sollen die jungen Leute, die in die Ausstellung kommen, möglichst viele sammeln. Fragen, die sie mit nach Hause nehmen, die sie noch lange bewegen, über die sich mit anderen austauschen lässt...

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