Das Leben neu lernen
Der Gießener Soziologe Reimer Gronemeyer stellt sich mit seinem Buch »Die Schwachen zuerst. Lektionen aus dem Lockdown« noch einmal mitten hinein in das gegenwärtige Ringen um das richtige Leben. Für ihn steckt in der Corona-Pandemie eine große Chance: nämlich endlich umzulernen und den Maßstab, dass vor allem Stärke und die Starken zählen, zu überwinden. Indem in der Pandemie die Sorge um die Schwachen oberste Wichtigkeit erhielt und zum Maßstab für die ganze Gesellschaft wurde, ist Gronemeyer zufolge ein neues, rettendes Weltverhältnis geboren, das aus der Sackgasse der Leistungs- und Wachstumsgesellschaft führen könnte. »Die Schwachen sind das Fieberthermometer der Gesellschaft: Wird es ihnen schlechter gehen, weil sie noch weniger zählen als zuvor? Oder werden wir nach einer neuen freundschaftlichen Lebensform suchen? Befürchtungen und Hoffnungen knüpfen sich an das, was da kommt. Wird es eine sanfte, ökologisch sensible Gesellschaft sein, die nicht mehr so wie zuvor auf Konsum, Mobilität, Leistung setzt wie die untergegangene Zivilisation? Wird sie sich stattdessen an Selbstbegrenzung, Freundschaft, Wärme und Nähe orientieren?«, schreibt Gronemeyer. Er plädiert eindringlich für einen Wandel. Denn die viel größere ökologische Katastrophe lasse sich nur durch eine radikale Umkehr abmildern – eine Umkehr, für die die Schwäche dringend positiv besetzt werden sollte. Denn nur durch ein gemeinsames Schwachwerden – im Sinne des Ablassen vom wachstumwahnsinnigen Ausbeuten und vom Leben auf Kosten der Schwachen – kann der Planet aufatmen und wir zu gemeinschaftlich-unterstützenden Lebensformen finden. Nötig sei hierfür »Genügsamkeit und Selbstbegrenzung«, Abkehr von einer »perfektionierten technologischen Gesellschaft« und vom »Wachstumszwang«. Gronemeyer rät: »Üben wir uns in der Kunst des Liebhabens in einer todfeindlichen Welt.« Statt Verstärkung technischer Perfektion und der Profitraten von Anteilseignern müsse das Mitleid wieder Raum greifen und die Lektion des Lockdowns gelernt werden: dass die Bereiche der Pflege, der Fürsorge, der Solidarität ausgebaut und gestärkt werden und das todbringende »Harakiri der Stärke und der Starken« überwunden wird. Gronemeyer hat einen höchst nachdenkenswerten Appell für eine solidarische Gesellschaft nach dem Lockdown verfasst. Er bietet vielleicht die letzte Chance, die wir haben...
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