Wir werden sterben. Wollen wir darüber reden?

Titelseite: Wir werden sterben. Wollen wir darüber reden?
Ausgabe 2012/03

Inhalt

Ein Jahr ist purer Luxus

Der schwer erkrankte Autor Wolfgang Herrndorf will bis zuletzt schreiben.

Von Stefan Seidel


  • Foto: Mathias Mainholz
  • Foto: Mathias Mainholz

Der schwer erkrankte Autor Wolfgang Herrndorf ist in diesem Jahr mit den höchsten deutschen Literaturpreisen geehrt worden. Öffentliche Auftritte meidet er. Doch in seinem Internet-Tagebuch lässt er viele Menschen an seinem Leben mit der Krankheit teilhaben.

Es ist der Traum vieler Schriftsteller: Hohe Buchauflagen, zahllose Buchpreise, Anerkennung und Möglichkeiten. Für den 47-jährigen Berliner Autor Wolfgang Herrndorf ist solch ein Traum wahr geworden. Mit seinem Jugendroman »Tschick« steht er seit vergangenem Jahr auf den Bestsellerlisten. Und sein aktuelles Buch »Sand« ist kaum weniger gefragt, ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchpresse und nominiert für den Deutschen Buchpreis. • Und doch grenzt dieser Traum für Herrndorf auch an einen Alptraum. »Jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre«, schreibt er in seinem Internet-Tagebuch. Vor zwei Jahren wurde bei Wolfgang Herrndorf ein bösartiger Gehirntumor diagnostiziert. Seither lebt er mit einer schmal gewordenen Frist. Doch Herrndorf will sich nicht ergeben, nicht aufgeben, will noch etwas von der Welt in ihm nach draußen geben. • Immer wieder errechnet er mit Statistiken die verbleibende Zeit, überlegt, ob sie noch ausreicht. »Ich werde noch ein Buch schreiben, sage ich mir, egal wie lange ich noch habe, wenn ich noch einen Monat habe, schreibe ich eben jeden Tag ein Kapitel. Wenn ich drei Monate habe, wird es ordentlich durchgearbeitet, ein Jahr ist purer Luxus.« • Herrndorf zwingt sich in die Gegenwart, ohne Blick zurück, ohne Blick voraus. Er schreibt mit einer unglaublichen Energie. Und findet darin das, was ihn am Leben erhält: »Arbeit und Struktur« – so auch der Titel seines Tagebuchs. Findet er darin nicht sogar Erfüllung? »Ich lebe so, wie ich immer hätte leben sollen. Und es nie getan habe, außer vielleicht als Kind«, bilanzierte er vor einem Jahr. • Es ist, als vermesse dieser Mann in seinen sogenannten besten Jahren nicht wie üblich die satte Breite und Länge des Lebens, sondern seine Tiefe. Alles kommt auf den Prüfstand: Ist es Zeitverschwendung, ist es wesentlich? Konventionen und alles, was man angeblich wissen oder gelesen haben muss, wird nachrangig. »Ich sterbe, und du erzählst mir ungefragt deinen ganzen nicht enden wollenden, langweiligen Lebenslauf«, schrieb Herrndorf vor einigen Monaten über ein »Mädchen auf irgendeiner Party«. • Ein Lebenselixier ist für ihn nicht nur das Schreiben, sondern auch das Lesen. »Existenziellen Trost« finde er im Teilnehmen an einem anderen Dasein, am Bewusstsein von Menschen, wie es in der Lektüre »großer Erzählungen« geschehe. Die Bücher von Fjodor Dostojewski und Hermann Hesse gehören für ihn dazu. • Doch Wolfgang Herrndorf verschont den Leser nicht mit den Tiefpunkten. Da ist die Angst, die immer wieder angekrochen kommt. »Die Nächte sind schön und leicht zu ertragen. Jeder Morgen ist die Hölle.« Er beschreibt Panikattacken, epileptische Anfälle, die ihn stumm machen und Stimmen hören lassen und die Welt aufzulösen scheinen. Seine größte Angst: Irgendwann nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein. • Zum Rettungsanker wird ihm die Vorstellung des selbstbestimmten Sterbens, er nennt es »Exitstrategie«. Wie Hohn erscheinen ihm Worte der Theologin Margot Käßmanns, die im »zur Verfügung gestellten effektiven Tod« eine Gefahr sieht. »Mitleiderregende Dummheit« kann Herrnsdorf diese wohlfeilen Worte nur nennen. Es gibt für ihn offenbar so etwas wie Beruhigung der Angst durch Einwilligung. Und so entstehen Momente, in denen er das Glück im Leben und das Glück im Tod sehen kann: Glück ist pulsierendes Leben. Glück ist, zum Ende zu kommen. • Einmal ist Herrnsdorf fähig, eine Liste von Dingen aufzustellen, die besser geworden sind: »Nie wieder Steuererklärung, nie wieder Rentenver­sicherung, nie wieder Zahnarzt. Ich werde meine Eltern nicht zu Grabe tragen.« • Als Geschenk kann man Herrnsdorfs brillante Romane begreifen. Ein Geschenk ist aber auch sein Tagebuch, seine Sicht auf das Leben, die die vielen kleinen Tode im Leben entlarvt. Er zeigt die Möglichkeiten des Lebens: »Ich will mein Leben tanzen / Ihr Lächeln, das ich nie vergessen werde / Wenn sie lachte, hatte ich Hoffnung / Einladung in den Himmel / Flieg mit den Vögeln / Mutti, ich hab’ noch nicht Tschüß gesagt.«..

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